Wie Juden und Christen einander begegnen (...) Blickpunkt Theologie Die heutige Theologie steht in verschiedengradiger Spannung zur kirchlichen Autorität, zur kirchlichen Praxis und zum jüdischen Volk. Sie war in der Vergangenheit nur selten ein Motor, der Bischöfe, Päpste, Konsistorialräte, Seelsorger und Katecheten zu einer vernünftigen oder gar wohlwollenden Einstellung zu Juden und Judentum geführt hätte. Es kommt auch heute noch viel Taktlosigkeit (insensitivity) dem Judentum und seinem Schicksal gegenüber aus dem Herzen der christlichen Theologie heraus. Es scheint zu unbequem zu sein, den antijüdisch-ideologischen Überhang des eigenen theologischen Faches abzubauen. Vor einem Pauschalurteil ist aber auch zu warnen. Es gibt ausgezeich-nete christlich-theologische Werke, die keinen Hauch von Judenfeind-schaft an sich haben und die voller Wissen und Einfühlung für das jüdische Volk sind.1 Im Sinne des jüdischen Dialogikers Jakob J. Petuchowski geht es in der jüdischen und in der christlichen Theologie zunächst darum, daß die jüdische Tradition von Christen und die christliche Tradition von Juden wohlwollend durchforstet und gedeutet wird. Dies ist der Sinn seines berühmt gewordenen Satzes: "Was uns also nottut, ist eine jüdische Theologie des Christentums und eine christliche Theologie des Judentums."2 Dialog heißt demnach wohlwollende Kenntnisnahme, wohlwollendes Verhandeln, Zurückdrängung negativer Urteile und starrer Abgrenzung. Der Bundesgott und das Bundesvolk Am Anfang der christlichen Judenfeindlichkeit standen nicht die Judenmörder, sondern die Ideologen. Sie verkündeten, das Volk der Juden sei bundesbrüchig und daher von Gott verlassen worden. Bei der Verurteilung Jesu zum Tod sei dies deutlich zum Ausdruck gekommen. Am Anfang der dialogischen jüdisch-christlichen Erneuerung muß daher die Bundesfrage stehen: Gott hat sein Volk nicht aus dem Bund hinausgeworfen und die Christen an ihrer Stelle exklusiv mit seiner Bundesliebe beschenkt. Das jüdische Volk ist nach wie vor das Bundesvolk Gottes (Röm 9-11; 15, 7-10). Dieses Bewußtsein steht am Anfang aller christlichen Theologie, die um die katastrophalen Folgen des gegenteiligen Denkens für die Juden und für das Gottesverständnis weiß. Es ist aber teilweise schwierig, aus dieser Theologie Schlußfolgerungen zu ziehen. Gibt es nur einen Bund Gottes, in den zuerst das Volk Israel und dann durch Jesus Christus die Menschheit hineingezogen worden ist? Oder gibt es zwei Bünde, die zueinander in Korrespondenz stehen, den Sinai-Bund und den Golgotha-Bund? Oder gibt es noch viel mehr Bünde Gottes mit Israel, der Menschheit und der Schöpfung?3 Mit Paul van Buren nimmt man am besten an, daß angesichts des heute wachsenden Bewußtseins der Pluralität der verschiedenen religiösen Traditionen von einem "Covenantal Pluralism" die Rede sein sollte.4 Christen und Juden sollten einander nicht nur einen oder mehrere Bünde Gottes zugestehen. Sie sollten ihren Blick vielmehr gemeinsam auch in größere Weiten richten. Auch andere Religionen und Völker stehen im Bund mit Gott! Gott ist nach jüdisch-christlichem Verständnis wesentlich ein Gott des Bundes. Wo kein Bund geschlossen wird, da existiert weder er noch irgendeine Kreatur! Wenn Christen und Juden zu exklusiv nur auf sich selbst schauen, fallen sie - den Muslimen, Hindus und anderen gegenüber - leicht in eine verengte Ghetto-Mentalität. Der Jude Jesus und der beinahe ganz nichtjüdische Christusglaube Jesus von Nazaret wurzelt als Mensch, als Lehrer, Messias und Märtyrer von Kopf bis Fuß im Judentum. Er ist nach christlichem Verständnis - mag dies im einzelnen auch etwas variieren - die entscheidende Verbindungsperson zwischen Gott, den Juden und den Völkern. Er steht also auf der Seite Gottes, auf der Seite derJuden und auf der Seite aller Menschen. Juden und Christen haben im Zusammenhang mit dem Juden Jesus zunächst einen Forschungsauftrag. Wie können wir das jüdische Denken, Reden und Handeln Jesu dechiffrieren? Wo und weshalb wurde Jesus durch seine christlichen Interpreten und Prediger antisemitisch mißdeutet?5 Was bedeuteten Jesu-Worte in damaliger Zeit? Wie verstanden oder mißverstanden ihn seine Jünger und die Späteren? Weshalb wurde er von wem zum Tod am Kreuz verurteilt? Wie war das Verhältnis der ersten christlichen Gemeinden zu den jüdischen Priestern und zu den Pharisäern? Bei diesen und anderen Fragen geht es nicht nur um eine methodengerechte Interpretation des Neuen Testaments, sondern auch um einen Überstieg ins frühjüdische und rabbinische Schrifttum. Jesus wird mißverstanden, wenn sich mit der gründlichen Kenntnis des Neuen Testaments nicht ebenso gründliche Kenntnisse der andern jüdischen Schriften der damaligen Zeit verbinden. Die Gleichnisse Jesu sind nur zu verstehen, wenn rabbinische Gleichnisse mitgehört werden.6 Man kann beispielsweise nur dann sagen, Jesus habe bei seinem Sabbat-Auftritt in der Synagoge von Nazaret zuerst aus der Tora vorgelesen und dann erst die Prophetenperikope aus Jesaja vorgelesen und gedeutet, wenn man die damaligen Idiome kennt. Das "er stand auf und las" in Lk 4,16 war damals der gebräuchliche Ausdruck für: "er stand auf und las aus der Tora vor".7 Lk 4,16f ist also im Widerspruch zu den meisten modernen Übersetzungen, in denen nur von einer Lesung Jesu aus dem Propheten Jesaja die Rede ist, so zu übersetzen: 'Jesus ... ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge. (Als er aufgerufen wurde,) stand er auf und las aus der Tora. Dann reichte man ihm die Rolle des Propheten Jesaja ...' Diese Detailverbesserung ist wichtig. Jesus wird hier als Toraleser und damit als ein im galiläischen Judentum anerkannter Lehrer vorgestellt. Von heutiger Sicht aus wird er damit in einem wichtigen Punkt ins Judentum heimgeholt.8 Die christlichen Glaubensaussagen über Jesus können ebenfalls nicht nur als unjüdisch stehengelassen werden. Auch in ihnen sind israelitische Konturen zu suchen, ohne daß aber Propaganda für sie bei Juden betrieben werden dürfte. Eine ganze Reihe von jüdischen Vorstellungen hat bei der Entwicklung der Christologie Pate gestanden: Vorstellungen über den Abstieg Gottes und über die Erhöhung des Menschen. Die jüdischen Traditionen über die Schechina (Einwohnung Gottes im Volk Israel) wären auch christologisch adaptierbar.9 Altchristliche Glaubensvorstellungen, die sich nicht mit damaligen jüdischen (hebräisch/ aramäischen) Worten wiedergeben lassen, stehen unter Ideologieverdacht, heutige Interpretationen sind ausjüdischen Quellen zu überprüfen. Die heutige Entscheidungszeit Die Bereinigung jener Fragen, die in der Vergangenheit zum Streit zwischen Juden und Christen geführt haben, die die Juden abwerteten oder die Selbständigkeit ihrer Gottesbeziehung in Frage stellten, ist heute zu einer Grundvoraussetzung für den Frieden der gesamten Menschheit geworden. Es zeigt sich immer deutlicher, daß die Haltung des christlichen, wirtschaftlichen, nationalistischen und rassistischen Antisemitismus heute in der Form von Türken-, Tamilen-, Schwarzenhaß und anderen Haßformen weiterlebt. Weil es um mehr geht als um bloße Rechthabereien zwischen Juden und Christen, wird heute kein christlicher Theologe in jüdisch-christlichen Kreisen akzeptiert, der Fragen nach Judentum und Christentum nur biblizistisch oder kontrovers-theologisch lösen will. Wenn er gehört werden will, muß er sich deutlich darüber äußern, daß er den Holocaust als Superverbrechen taxiert, daß er dem jüdischen Volk auch ein staatliches Lebensrecht einräumt und daß er die Umkehr des Christentums - weg von Judenfeindschaft und Assimilationsversuchen - für unverzichtbar hält. Ähnliches gilt auch für die Kirchen: Aus ihren Deklarationen und ihrem pastoralen Tun muß ihr Selbstreinigungs- und Umkehr-Prozeß deutlich werden. Das Wort von Johann Baptist Metz ist für viele zu einem Leitwort für das heute notwendige Tun geworden: "Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück; über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz. Das ist in meinen Augen die Wurzel der jüdisch-christlichen Ökumene." Es gelte nun: "keine Theologie mehr zu treiben, die so angelegt ist, daß sie von Auschwitz unberührt bleibt".10 Juden und Christen verhandeln also heute miteinander über fast alles, woran das Christentum, das Judentum und die Welt seit Generationen kranken. Gesucht sind Kräfte der Umkehr und der Hoffnung. Anmerkungen Clemens Thoma, Jahrgang 1932, Professor für Bibelwissenschaft und Judaistik in Luzern, Leiter des Instituts für jüdisch-christliche Forschung, langjährige internationale Erfahrung im christlich-jüdischen Dialog. aus: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, März
1992 |
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